Am 8. September 1948 hielt Professor Dr. Carlo Schmid vor dem Parlamentarischen Rat folgende Rede. Wir haben beim Deutschen Bundestag am 13. September 2024 per Petition 172544 beantragt, die Rede vollständig im Plenum des Deutschen Bundestages vor allen Abgeordneten abzuspielen und danach eine offene Debatte zu ermöglichen.
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Carlo Schmid
Grundsatzrede vor dem Parlamentarischen Rat
1948
Gestatten Sie mir vor dem Eintreten in die eigentlichen Ausführungen, die ich Ihnen zu unterbreiten habe, einige wenige Worte zur Methode meiner Darlegungen. Sie sind nötig, weil vielleicht ein Teil der Zuhörer finden möchte, dass meine Ausführungen, zu Beginn wenigstens, lediglich Darlegung von Theorien darstellten. Es handelt sich hier nicht darum, zu
theoretisieren, aber es handelt sich darum, so wie der Ingenieur, der mit Rechenschieber und Logarithmentafel umzugehen hat, gelegentlich einmal sein Physikbuch hervorholt, um den Ort seines Wirkens im System der Mechanik genau festzustellen, einmal zu sehen, in welchem Bereich wir uns zu bewegen haben.
Theorie ist ja kein müßiger Zeitvertreib, sondern manchmal der einzige Weg, komplexe Verhältnisse zu klären und manchmal die einzige Möglichkeit, sicher des Wegs zu gehen. Die einzige Möglichkeit, die Lage des archimedischen Punktes zu definieren, an dem wir den Hebel unserer politischen Aktivität
anzusetzen haben. Nur durch eine klare Erkenntnis dessen, was ist, können wir uns die Rechnungsgrundlagen verschaffen, deren wir bedürfen werden, um richtig zu handeln.
Der Versuch, einen Tatbestand in allen seinen Bezügen denkend zu erfassen, ist die einzige Methode, die es einem ermöglicht, sich so zu entscheiden, dass die Entscheidung auch verantwortet werden kann.
Meine Damen und Herren, worum handelt es sich denn eigentlich bei dem Geschäft, das wir hier zu bewältigen haben?
Was heißt denn, Parlamentarischer Rat, was heißt denn Grundgesetz. Wenn in einem souveränenStaatswesen das Volk eine verfassunggebende Nationalversammlung einberuft, ist deren Aufgabe klar und braucht nicht weiter diskutiert zu werden.
Sie hat eine Verfassung zu schaffen.
Was heißt aber eine Verfassung? Eine Verfassung ist die Gesamtentscheidung eines freien Volkes über die Formen und die Inhalte seiner poliƟschen Existenz. Eine solche Verfassung ist dann die Grundnorm
des Staates. Sie bestimmt in letzter Instanz, ohne auf einen Dritten zurückgeführt zu werden brauchen, die Abgrenzung der Hoheitsverhältnisse auf dem Gebiet. Und dazu hin bestimmt sie die Rechte der
Individuen und die Grenzen der Staatsgewalt.
Nichts steht über ihr. Niemand kann sie außer Kraft setzen. Niemand kann sie ignorieren. Eine Verfassung ist nichts anderes als die in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung der Freiheit eines Volkes. Darin liegt ihr Pathos und dafür sind die Völker auf die Barrikaden gegangen.
Wenn wir in diesen, solchen Verhältnissen zu wirken hätten, dann brauchten wir die Frage, warum handelt es sich denn eigentlich, nicht zu stellen. Dieser Begriff einer Verfassung gilt in einer Welt, die
demokratisch sein will, die die Gesetze der Demokratie als ihre Lebensgesetze anerkennen will, unabdingbar.
Freilich weiß jeder von uns, dass man auch Ordnungsgesetze anderer Art schon Verfassungen genannt hat, zum Beispiel die oktroyierten Verfassungen der Restaurationszeit so von achtzehnhundertvierzehn ab. Diese oktroyierten Verfassungen waren zweifellos technisch gelegentlich nicht schlecht und die
Fürsten, die sie gegeben haben, mochten dann und wann durchaus gute Absichten haben.
Aber das Volk hat diese Dinge nie als Verfassungen betrachtet und die Revolutionen von achtzehnhundertdreißig sind nichts anderes gewesen als der Aufstand der Völker Europas gegen oktroyierte Verfassungen, die nicht im Wege der Selbstbestimmung der Völker entstanden, sondern die auferlegt worden sind. Es kam in diesen RevoluƟonen zum Ausdruck die Erkenntnis, dass eine Verfassung in einer
demokratischen Welt etwas mehr sein muss als ein bloßes Reglement, als ein bloßes Organisationsstatut. Die Ordnung des Behördenauĩaus, die Ordnung der Staatsfunkionen, die Abgrenzung der Rechte, der Individuen und der Obrigkeit sind durchaus vorstellbar, und das hat es gegeben, im Bereich der organischen Artikel des absolutisischen Obrigkeitsstatus und auch im Bereich der Fremdherrschaft.
Man wird aber da nicht von Verfassung sprechen, wenn Worte ihren Sinn behalten sollen, denn es fehlt diesen Gebilden der Charakter des keinem fremden Willen unterworfenen Selbstbestimmungsrechts.
Es handelt sich dort Organisation und nicht Konstiution.
Ob eine Organisation selber vorgenommen wird oder ob sie der Ausfluss seines fremden Willens ist, macht keinen prinzipiellen Unterschied, denn bei Organisationen kommt es wesentlich darauf an und
ausschließlich darauf an, ob sie gut oder schlecht funktionieren.
Bei einer Konstitution aber ist das anderes. Dort macht es einen Wesensunterschied, ob sie selbst vorgenommen wurde oder ob sie der Ausfluss fremden Willens ist, denn eine Konstitution ist nichts anderes als das ins Leben treten als politischer Schicksalsträger aus eigenem Willen.
Dies alles gilt auch von der Schaffung eines Staates. Sicher, Staaten können auf die verschiedenste Weise geschaffen werden. Sie können sogar durch äußeren Zwang geschaffen werden. Staat ist aber dann nichts anderes als ein Ausdruck für Herrschaftsapparat, so wie etwa die Staatstheoretiker der
früheren Renaissance von „il stato“ sprachen. Il stato, das ist einfach der Herrschaftsapparat gewesen, der irgendwo in organisierter Weise Gewalt ausgeübt hat.
Aber, das ist ja gerade der große Fortschritt auf den Menschen hin gewesen, den die Demokratie getan hat, dass sie im Staat etwas anderes zu sehen begann als einen bloßen HerrschaŌsapparat. Staat ist für sie immer gewesen das in die eigene Hand genommene Schicksal des Volkes, Ausdruck der
Entscheidung des Volkes zu sich selbst.
Man muss wissen, was man will, wenn man von Staat spricht, ob den bloßen Herrschaftsapparat, der auch einem fremden Gebieter zur Verfügung stehen kann, oder eine lebendige Wirklichkeit, eine in sich aus eigenem Willen gefügte Demokratie. Ich glaube, dass man in einem demokratischen Zeitalter
von einem Staat im legitimen Sinn des Wortes nur sprechen sollte, wo es sich das Produkt eines frei
erfolgten konstitutiven Gesamtaktes eines souveränen Volkes handelt.
Wo das nicht der Fall ist, wo ein Volk sich unter FremdherrschaŌ und in deren Anerkennung zu organisieren hat, konstituiert es sich nicht. Es sei denn gegen die Fremdherrschaft selbst. Sondern es organisiert sich lediglich, vielleicht sehr staatsähnlich, aber nicht als Staat im demokratischen Sinn.
Es ist, wenn Sie mir ein Bild gestatten wollen, aus dem römischen Recht, so wie man dort den Freien und den Sklaven kannte und den Freigelassenen, wäre ein in dieser Weise organisiertes Gemeinwesen nicht ein Staat, sondern dem Staat gegenüber im selben Verhältnis wie der Freigelassene zum Freien.
Diese Organisation als staatsähnliches Wesen kann freilich sehr weit gehen. Was aber das Gebilde von echter demokratisch legitmierter Staatlichkeit unterscheidet, ist, dass es im Grunde nichts anderes ist
als die Organisationsform einer Modalität der Ausübung der Fremdherrschaft.
Denn die Selbstorganisation trotz mangelnder voller Freiheit setzt die Anerkennung der fremden Gewalt als übergeordneter und legitimierter Gewalt voraus. Nur wo der Wille des Volkes aus sich selber fließt, nur wo dieser Wille nicht durch Auflagen eingeengt ist, durch einen fremden Willen, der
Gehorsam fordert und dem Gehorsam geleistet wird, wird Staat im echten demokratischen Sinn des Wortes geboren.
Wo das nicht der Fall ist, wo das Volk sich lediglich in Funktion des Willens einer fremden übergeordneten Gewalt organisiert, sogar unter dem Zwang, gewisse Direktiven dabei befolgen zu müssen und mit der Auflage, sich sein Werk genehmigen zu lassen, entsteht lediglich ein Organismus
mehr oder weniger administrativen Gepräges.
Dieser Organismus mag alle normalen, ich möchte sagen, inneren Staatsfunktionen haben. Wenn ihm die Möglichkeit genommen ist, sich die Formen seiner Wirksamkeit und die Grenzen seiner Entscheidungsgewalt selber zu bestimmen, fehlt ihm, was den Staat ausmacht, nämlich die Kompetenz der Kompetenzen im tieferen Sinne des Wortes; das heißt, die letzte Hoheit über sich selbst und damit die Möglichkeit zur letzten Verantwortung. Das alles hindert nicht, dass dieser Organismus nach innen
in höchst wirksamer Weise obrigkeitliche Gewalt auszuüben vermag.
Was ist nun die Lage Deutschlands heute? Am achten Mai Neunzehnhunderƞünfundvierzig hat die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert. An diesen Akt werden von den verschiedensten Seiten die
verschiedensten Wirkungen geknüpft. Diese bedingungslose Kapitulation hatte Rechtswirkungen ausschließlich auf militärischem Gebiet.
Die Kapitulationsurkunde, die dort unterzeichnet wurde, hat nicht etwa bedeutet, dass damit das deutsche Volk durch legitmierte Vertreter zum Ausdruck bringen wollte, dass es als Staat nicht mehr
existiert, sondern hatte lediglich die Bedeutung, dass den Alliierten das Recht nicht bestritten werden sollte, mit der deutschen Wehrmacht nach Gutdünken zu verfahren.
Das ist der Sinn der bedingungslosen Kapitulation und kein anderer. Manche haben daran andere Rechtsfolgen geknüpft. Sie haben gesagt, aufgrund dieser bedingungslosen Kapitulation sei Deutschland als staatliches Gebilde untergegangen. Sie argumentieren dabei mit dem völkerrechtlichen Begriff der „Debellatio“, der kriegerischen Niederwerfung eines Gegners.
Diese Ansicht ist schlechterdings falsch. Nach Völkerrecht wird ein Staat nicht vernichtet, wenn seine Streitkräfte und er selbst militärisch niedergeworfen sind. Die Debellatio vernichtet für sich allein die
Staatlichkeit nicht. Sie gibt lediglich dem Sieger einen Rechtstitel auf Vernichtung der Staatlichkeit des Niedergeworfenen. Der Sieger muss also von dem Zustand der Debellatio Gebrauch machen, wenn die
Staatlichkeit des Besiegten vernichtet werden soll. Und hier gibt es zwei Möglichkeiten nach Völkerrecht.
Die eine ist die Annexion. Er muss das Gebiet des Besiegten annektieren, seinem Gebiet einstücken, dann allerdings ist die Staatlichkeit vernichtet, oder die sogenannte Subjugation, die Verknechtung des
besiegten Volkes. Aber die Sieger haben nichts von dem getan. Sie haben in Potsdam ausdrücklich erklärt, erstens, dass kein deutsches Gebiet im Wege der Annexion weggenommen werden soll. Und zweitens, dass das deutsche Volk nicht versklavt werden soll. Daraus ergibt sich, dass zu mindestens aus den Ereignissen von Neunzehnhunderƞünfundvierzig nicht
der Schluss gezogen werden kann, dass Deutschland als staatliches Gebilde zu existieren aufgehört habe. Aber, es ist ja etwas geschehen Neunzehnhunderƞünfundvierzig, das ganz wesentlich in unsere
staatlichen und politischen Verhältnisse eingegriffen hat.
Nur ist, was geschehen ist, eben nicht die Vernichtung der deutschen Staatlichkeit. Aber was ist es denn, was geschehen ist?
Erstens, der Machtapparat der Diktatur wurde zerschlagen. Da dieser Machtapparat der Diktatur durch die Identität von Partei und Staat identisch gewesen ist mit dem Staatsapparat, ist der deutsche Staat durch die Zerschlagung dieses Herrschaftsapparats desorganisiert worden. Desorganisation des Staatsapparats ist aber nicht Vernichtung des Staates der Substanz nach.
Wir dürfen ja nicht vergessen, dass in den ersten Monaten nach der Kapitulation im Sommer Neunzehnhunderƞünfundvierzig, wo keinerlei Zentralgewalt zu sehen war, sondern wo die Bürgermeister der Gemeinden als kleine Könige regierten, die Landräte auch und die ersten gebildeten
Landesverwaltungen erst recht, dass alle diese Leute und alle diese Stellen ihre Befugnisse ausübten nicht für sich, nicht für die Gemeinde und für das Land, sondern fast überall für das Deutsche Reich.
Es war eine Art Treuhänderschaft von unten, die sich dort geltend machte. Ich erinnere noch genau in diesen Monaten, wie es war, wie die Landräte die Steuern einzogen, nicht etwa, weil sie geglaubt hätten, sie stünden ihnen zu, sondern sie zogen sie ein, weil jemand das Geschäft stellvertretend für
das Ganze besorgen musste. Und ähnlich machten es die Bürgermeister und machten es auch die Landesverwaltungen. Als man zum Beispiel in der französischen Zone die Länder veranlasste, einen Vertrag zu schließen, in dem ihnen großmütig zugestanden war, das deutsche Eisenbahnvermögen nun auf die Länder zu übertragen, da haben die Länder der französischen Zone sich geweigert, es zu tun und haben gesagt, aus technischen Gründen mag der Vertrag nötig sein, wir übernehmen aber das
Reichsbahnvermögen nur treuhänderisch für Deutschland.
Diese Auffassung, dass die Existenz Deutschlands als Staat nicht vernichtet sei und dass es als Rechtssubjekt erhalten worden sei, ist heute weitgehend Gemeingut der Rechtswissenschaft, auch im
Ausland. Deutschland existiert als staatliches Gebilde noch, es ist rechtsfähig, es ist aber nicht mehr geschäftsfähig, noch nicht geschäftsfähig.
Die Gesamtstaatsgewalt wird zumindest auf bestimmten Sachgebieten ausgeübt durch die Besatzungsmächte, durch den Kontrollrat im Ganzen und durch die Militärbefehlshaber in den einzelnen Zonen. Durch Treuhänderschaft von oben wird der Zusammenhang gehalten. Die
Hoheitsgewalt in Deutschland ist also nicht untergegangen. Sie hat den Träger gewechselt, sie ist in Treuhänderschaft übergegangen.
Das Gebiet ist zwar weitgehend verletzt, aber der Substanz nach ist es erhalten und das deutsche Volk ist als Staatsvolk erhalten geblieben. Gestatten Sie mir hier ein Wort zum Staatsvolk. Es hat sich in
diesem Teil Deutschlands ungemein vermehrt durch die Flüchtlinge, durch die Menschen, die ausgetrieben worden sind aus Heimaten, in denen ihre Vorfahren schon seit Jahrhunderten ansässig gewesen sind.
Man sollte nicht so rasch in der Welt vergessen, was hier geschehen ist. Denn wenn wir es vergessen sollten, wenn wir dieses Wissen verdrängen sollten aus unserem Bewusstsein, dann könnte es geschehen, dass einige Generationen später das Verdrängte in böser Gestalt wieder heraukommen
könnte.
Man sollte gerade im Zeitalter der Nürnberger Prozesse auch von diesen Dingen sprechen. Freilich wissen wir genau, dass die Austreibung von Bevölkerungen nicht erfunden worden ist von den Siegern
dieses Krieges, sondern in Mitteleuropa erfunden worden ist von den Nationalsozialisten. Und das, was hier geschieht, lediglich das Zurückkommen des Bumerangs ist, der einst von hier ausgeworfen wurde.
Trotzdem aber bleibt bestehen, dass, was hier geschehen ist, auch Unrecht ist.
Es gibt ein französisches Sprichwort: On excuse pas le mal par le pir! Man rechtfertigt das Böse nicht durch den Hinweis auf ein noch Böseres. Damit, dass die drei Staatselemente erhalten geblieben sind, ist Deutschland als staatliche Wirklichkeit erhalten geblieben. Deutschland braucht nicht neu
geschaffen zu werden, es muss aber neu organisiert werden.
Diese Feststellung ist von einer rechtlichen Betrachtung aus unausweichlich. Es ist aber hier noch kurz darauf einzugehen, ob nicht vielleicht durch politische Akte, die nach dem Mai fünfundvierzig in Deutschland selbst sich ereignet haben könnten, nicht doch eine Auflösung Deutschlands als eines
staatlichen Gebildes erfolgt ist. Ich glaube aber, dass nichts dem, was seit drei Jahren geschehen ist, uns berechtigt anzunehmen, dass das deutsche Volk oder erhebliche Teile des deutschen Volkes sich
entschlossen hätten, Deutschland aufzulösen.
Wenn wir ein Beispiel nehmen, wo das in der Tat geschehen ist, dann sehen wir am besten, dass es falsch ist, von so etwas zu sprechen, was Deutschland anlangt. Österreich Ungarn nach neunzehnhundertachtzehn ist nicht nur zerfallen, sondern ist in der Tat durch den Entschluss der Völkerschaften, die es früher ausmachten als staatliches Gebilde aufgelöst worden und an seine Stelle sind neue Staaten getreten, die sich nicht als Rechtsnachfolger der alten Doppelmonarchie zu betrachten brauchten.
So etwas ist in Deutschland nicht geschehen. Nun ist die Frage, ob es vielleicht da und dort in Deutschland geschehen ist, ob einzelne Teile Deutschlands vom Ganzen abgefallen sind und sich separieren wollten. Kann man einen solchen Akt aus irgendwelchem Ereignis schließen, das sich seit
dem Sommer fünfundvierzig bei uns begeben hat? Manche mögen auf diese oder jene Bestimmung, dieser oder jener Länderverfassung hinweisen, wo es etwa heißt, dass das Land x y bereit ist, einem neuen deutschen Bundesstaat oder einem neuen Deutschland beizutreten.
Ich glaube, man sollte aus solchen Sätzen keine allzu weitgehenden Folgerungen ziehen. Ich jedenfalls glaube nicht, dass die Landtage und die Bevölkerungen der Länder, in deren Verfassung dieser Satz steht, damit erklären wollten, dass sich das Land von Deutschland separieren wollte. Es handelt sich hier die Kodifikation eines Rechtsirrtums, der damals, als die Verfassung beraten wurde, entschuldbar und verständlich gewesen sein mag, aber nicht um mehr. Nun könnte man weiter die Frage aufwerfen, ob vielleicht nicht eine andere Betrachtung noch hier angefügt werden müsste. Eric Reger, dessen gallige Artikel zu lesen sich auch dann lohnt, wenn man sie
für nicht ganz angepasst an die Situation hält, hat jüngst geschrieben, dass es sich hier nicht um eine Rechtsfrage handle, sondern die Bekundung eines politischen Willens, die Zäsur in der politischen Kontinuität deutlich zu markieren.
Nun, ich bin völlig damit einverstanden, dass man eine Zäsur markiert zwischen gestern und heute und noch mehr zwischen gestern und morgen. Aber, bedingten der Wechsel in einem politischen System
denn notwendig den Untergang des Staatswesens? Haben denn die Franzosen zum Beispiel, als sie achtzehnhundertsiebzig vom zweiten Kaiserreich zur Dritten Republik übergingen, vorher den
französischen Staat als staatliches Gebilde aufgelöst?
Ein Systemwechsel ist doch gerade dadurch charakterisiert, dass das staatliche Gebilde, in dem der Systemwechsel erfolgt, erhalten bleibt. Der Rechtszustand, in dem Deutschland sich befindet, wird noch durch Folgendes charakterisiert. Die Alliierten halten Deutschland ja nicht nur besetzt aufgrund
der Haager Landkriegsordnung. Darüber hinaus trägt ihre Besetzung Deutschlands interventionistischen Charakter. Was heißt denn Intervention? Es bedeutet, dass eine fremde Macht, oder fremde Mächte, innerdeutsche Verhältnisse, um die zu kümmern ihnen das Völkerrecht eigentlich
verwehrt, auf deutschem Boden nach ihrem Willen gestalten wollen.
Es hat keinen Sinn, darüber zu jammern, dass es so ist. Dass es dazu kommen konnte, hat seine guten Gründe. Man kann verstehen, dass unsere Nachbarn sich nach dem, was im deutschen Namen in der Welt angerichtet worden ist, sich ihre Sicherheit selber verschaffen wollen. Ob sie es dabei klug
angestellt haben oder nicht, soll hier nicht diskutiert werden. Das ist eine andere Geschichte. Aber Intervention vermag lediglich Tatsächlichkeit zu schaffen, vermag nicht, Rechtswirkungen herbeizuführen.
Völkerrechtlich muss eine interventionistische Maßnahme legitmiert sein, entweder durch einen vorher geschlossenen Vertrag oder durch eine nachträgliche Vereinbarung. Ein vorher geschlossener Vertrag liegt nicht vorn. Die Haager Landkriegsordnung verbietet ja geradezu interventionistische
Maßnahmen als Dauererscheinungen. So wird man für die Frage, ob diese Maßnahmen von uns als Recht anerkannt werden müssen, spätere Vereinbarungen abzuwarten haben.
Aber kein Zweifel kann darüber bestehen, dass diese intervenƟonisƟschen Maßnahmen der Besatzungsmächte vorläufig legal sind aus dem Grunde, dass das deutsche Volk diesen Maßnahmen Gehorsam leistet. Es liegt hier ein Akt der Unterwerfung vor, drücken wir es doch aus, wie es ist. Eine
Art von negaƟvem Plebiszit, durch den das deutsche Volk zum Ausdruck bringt, dass es für Zeit auf die Geltendmachung seiner Volkssouveränität zu verzichten bereit ist. Man muss sich klar sein darüber, was Volkssouveränität heißt. Nicht jede Möglichkeit, sich da und dort nach seinem Willen in mehr oder weniger Beschränkung einzurichten, sondern zur Volkssouveränität
gehört, wenn das Wort einen Sinn haben soll, auch die Entschlossenheit, sie zu verteidigen und sich zu widersetzen, wenn sie angegriffen wird. Solange das nicht geschieht – und es hat sehr gute Gründe, dass es nicht geschieht – werden wir die Legalität der interventionistischen Maßnahmen zumindest für
Zeit anerkennen müssen. Das ist ja gerade die juristische Bedeutung der Resistance in Frankreich gewesen, dass infolge dieses „sich nicht unterwerfen“ die Maßnahmen der Zwischenregierungen nicht
als legal zu gelten brauchten.
Zu den interventionistischen Maßnahmen, die die Besatzungsmächte in Deutschland vorgenommen haben, gehört, dass sie die Ausübung der deutschen Volkssouveränität blockiert haben. An und für sich
ist die Volkssouveränität in einem demokratischen Zeitalter zum mindesten, der Substanz nach unvernichtbar und unverzichtbar. Ich glaube, sagen zu können, dass dies auch heute der Standpunkt der offiziellen amerikanischen Stellen ist. Aber, man kann die Ausübung der Volksouveränität ganz oder
teilweise sperren. Das ist bei uns neunzehnhunderƞünfundvierzig geschehen. Sie wurde ursprünglich völlig gesperrt. Dann wurde diese Sperrung stückweise von den Besatzungsmächten zurückgezogen. Immer weitere
Schichten der deutschen Volksouveränität wurden zur Betätigung freigegeben. Zuerst die Schicht, aus der heraus die Selbstkonstituierung und Selbstverwaltung der Gemeinden erfolgt. Dann die Schicht,
aus der heraus die politische und administrative Organisation von Gebietsteilen etwa, in der Gestalt unserer Länder, erfolgt. Die regionale Schicht der deutschen Volkssouveränität unter Vorbehalt des
Ganzen wurde hier freigelegt. Aber, geben wir uns hier keinem Irrtum hin, auch bei diesen konstitutiven Akten handelte es sich nicht um freie Ausübungen der Volksouveränität. Denn auch dort war die
Entscheidung weithin vorgegeben. Am weitestgehenden dadurch, dass ja die Besatzungsmächte selber es gewesen sind, die den größten Teil dieser Länder abgezirkelt und damit bestimmt haben. Und in der
britischen Zone haben die Länder heute noch keine Möglichkeit gehabt, sich selbst zu konstituieren.
Dort wird am besten deutlich, in welchem Umfang Existenz und die Konfiguration unserer Länder im wesentlichen Ausfluss des Willens der Besatzungsmächte sind. Nunmehr hat man uns eine weitere Schicht freigegeben. Und wir müssen uns fragen, ist das, was uns
jetzt freigegeben worden ist, der ganze verbleibende Rest der bisher gesperrten Volksouveränität. Manche wollen die Frage bejahen, ich möchte Sie energisch verneinen. Es ist nicht der ganze Rest freigegeben worden, sondern nur ein Teil dieses Restes. Zuerst räumlich
betrachten: Die Volkssouveränität ist, wo man von ihrer Fülle spricht, unteilbar. Sie ist auch räumlich nicht teilbar. Wenn man sie räumlich für teilbar halten sollte, dann würde das bedeuten, dass man den Zwang zur Schaffung eines separaten Staatsvolkes hier im Westen setzt. Das will das deutsche Volk in den drei Westzonen aber nicht sein. Es gibt kein westdeutsches Staatsvolk
und wird keines geben. Das ist der Sinn des französischen Verfassungswortes „La nation une et indivisible!“ Eine und unteilbare Nation, was nichts anderes bedeutet, als dass die Volkssouveränität auch räumlich nicht teilbar ist. Nur das gesamte deutsche Volk kann volkssouverän handeln und nicht ein Partikel davon. Ein Teil von ihm könnte es nur dann, wenn er legitimiert wäre, als Repräsentant der Gesamtnation zu handeln, oder wenn ein Teil des deutschen Volkes durch äußeren Zwang endgültig verhindert wäre, seine Freiheitsrechte auszuüben. Dann ist ja nur der Rest, der bleibt, ein freies deutsches Volk, das deutsche Volkssouveränität ausüben könnte.
Ist dieser Zustand heute schon eingetreten? Manche behaupten ja, aber man soll nicht vergessen: Noch wird verhandelt, noch ist man sich zumindest offiziell darüber einig, in der Verschiedenheit der Zonenherrschaft ein Provisorium zu sehen. Etwas, das nach dem Willen aller, auch derBesatzungsmächte, vorübergehen soll. Und es scheint mir nicht unser Interesse zu sein, einer Besatzungsmacht durch ein Tun unsererseits einen Vorwand dafür zu liefern, aus dem Provisorium der Separation der einzelnen Zonen ein DefiniƟvum der SeparaƟon Ostdeutschlands zu machen. Aber das ist eine politische Entscheidung. Können wir sie treffen, ist die Frage. Können wir sie treffen in einem Zustand, in dem uns die Möglichkeit genommen ist, den Umfang des Risikos zu bestimmen, dass Deutschland dabei treffen müsste. Eine gesamtdeutsche konstitutionelle Lösung wird erst möglich sein, wenn eines Tages eine deutsche Nationalversammlung in voller Freiheit wird gewählt werden können. Das setzt aber voraus, entweder die Einigung der vier Besatzungsmächte über eine gemeinsame Deutschlandpolitik, oder es setzt voraus, einen Akt der Gewalt nach der einen oder anderen Seite. Es mag sein, dass manche gerne mit diesem Gedanken spielen. Es lohnt sich aber vielleicht, diesen Gedanken einmal zu meditieren. Was bedeutete denn Gewalt in diesem Zusammenhang? Entweder die Vertreibung einer Besatzungsmacht, die einer gesamtdeutschen demokratischen Einigung widerstrebt. Könnte das etwas anderes werden als eine Katastrophe für die ganze Welt? Oder es bedeutet, endgültige Abtrennung einer Zone durch Gewaltanwendung einer Besatzungsmacht mit gleichzeitiger politischer Entmannung des deutschen Volkes in dieser Zone und damit die endgültige Verminderung Deutschlands auf den Teil, der in Freiheit über sich noch bestimmen könnte.
Auch das wäre eine Katastrophe und eine Weltkatastrophe, nicht nur eine deutsche. Man sollte daher nichts tun, was dazu beitragen könnte, diese Katastrophen wahrscheinlicher zu machen als sie es vielleicht aus sich selber heraus sind. Zu dieser räumlichen Einschränkung der Möglichkeit der Deutschen, Volksouveränität auszuüben, kommt noch eine substanzielle Einschränkung. Wenn man die Dokumente eins und drei liest, die den Ministerpräsidenten seitens der Militärbefehlshaber übergeben werden soll, dann sieht man, dass die Besatzungsmächte sich eine ganze Reihe von Sachgebieten und von Befugnissen zu eigener oder konkurrierender Zuständigkeit vorbehalten haben. Es gibt fast mehr Einschränkungen deutscher Befugnisse in diesen Dokumenten als Freigaben deutscher Befugnisse. Die erste Einschränkung ist, dass uns für dieses Grundgesetz bestimmte Inhalte auferlegt worden sind, dass wir es, nachdem es hier beraten und beschlossen sein wird, den Besatzungsmächten zur Genehmigung werden vorlegen müssen. Nun möchte ich sagen, dass eine Verfassung, die ein anderer zu genehmigen hat, ein Stück Politik des Genehmigungsberechtigten ist, aber kein Ausfluss der Volkssouveränität des Genehmigungspflichtigen. Die zweite Einschränkung ist, dass entscheidende Staatsfunktionen versagt sind. Auswärtige Beziehungen, freie Ausübung der Wirtschaftspolitik, eine Reihe von Sachgebieten sind vorbehalten, die Legislatve, Exekutive und sogar die Gerichtsbarkeit sind gewissen Einschränkungen unterworfen. Die dritte Einschränkung: Die Besatzungsmächte haben sich das Recht vorbehalten, im Falle von Notständen, die Fülle der Gewalt wieder an sich zu nehmen. Die Autonomie, die uns gewährt ist, ist also eine Autonomie auf Widerruf. Wobei es die Besatzungsmächte sind, die nach den bisherigen Texten ausschließlich zu bestimmen haben, ob der Fall gegeben ist oder nicht. Vierte Einschränkung: Verfassungsänderungen müssen genehmigt werden. Also, auch die jetzt freigegebene Schicht der ursprünglich vollgesperrten deutschen Volksouveränität ist nicht das Ganze, sondern ist nur ein Fragment. Und daraus ergibt sich folgende praktische Konsequenz.
Um einen Staat im Vollsinn zu organisieren, muss sich die Volkssouveränität in ihrer ganzen Fülle auswirken können. Wo nur eine fragmentarische Ausübung möglich ist, kann auch nur ein Staatsfragment organisiert werden. Mehr als das können wir nicht zu Wege bringen. Es sei denn, was eine politische Entscheidung voraussetzen würde, dass wir den Besatzungsmächten gegenüber Rechte geltend machen, die sie uns heute noch nicht einräumen wollen. Aber das müsste ihnen gegenüber eben durchgekämpft werden. Solange das nicht geschehen ist, können wir, wenn Worte einen Sinn haben sollen, keine Verfassung machen. Auch keine vorläufige Verfassung, wenn vorläufig lediglich eine zeitliche Bestimmung sein soll, sondern was wir machen können, ist ausschließlich das Grundgesetz für ein Staatsfragment. Die eigentliche Verfassung, die wir haben, ist auch heute noch das geschriebene oder ungeschriebene Besatzungsstatut. Die Art und Weise, wie die Besatzungsmächte die Besatzungshoheit ausüben, bestimmt, wie die Hoheitsbefugnisse auf deutschem Boden verteilt sein sollen. Und sie bestimmt auch darüber, was an den Grundrechten unserer Länderverfassungen tatsächlich effektiv und was nur Literatur ist. Diesem Besatzungsstatut gegenüber ist alles andere sekundär, solange man in Anerkennung seiner Wirklichkeit handelt.
Nichts ist kennzeichnender für diesen Zustand, als der Schlusssatz des Dokuments Nummer drei, in dem ausdrücklich gesagt ist, dass nach dem Beschluss des Parlamentarischen Rates und vor der Ratifikation dieses Beschlusses in den Ländern, die Besatzungsmächte das Besatzungsstatut verkünden werden, damit das deutsche Volk weiß, heißt es dort, in welchem Rahmen diese Verfassung gilt. Wenn man einen solchen Zustand nicht will, dann muss man dagegen handeln wollen. Aber das wäre es dann Sache des deutschen Volkes selbst und nicht die Sache sogenannter staatlicher Organe, die sich ihre Akte jeweils vorher genehmigen lassen müssen. Damit glaube ich, die Frage beantwortet zu haben, worum es sich bei unserem Tun denn eigentlich handelt. Wir haben unter Bestätigung der Alliierten Vorbehalte, das Grundgesetz zur Organisation der heute freigegebenen Hoheitsbefugnisse des deutschen Volkes in einem Teil Deutschlands zu beraten und zu beschließen. Wir haben nicht die Verfassung Deutschlands oder Westdeutschlands zu machen.
Wir haben keinen Staat zu errichten. Wir haben hier etwas zu tun, das uns die Möglichkeit gibt, gewisser Notstände Herr zu werden, besser Herr zu werden, als wir das bisher konnten. Auch ein Staatsfragment muss eine Organisation haben, die geeignet ist, den praktischen Bedürfnissen der inneren Ordnung eines Gebietes gerecht zu werden. Auch ein Staatsfragment braucht eine Legislative, braucht eine Exekutive und braucht eine Gerichtsbarkeit. Und wenn man nun fragt, wo dann die Grenzen gegenüber dem Vollstaat, gegenüber der Vollverfassung seien, nun, das ist eine Frage der praktischen Beurteilung im Einzelfall. Aber über folgende Dinge sollte Einigkeit erzielt werden können. Erstens: Das Grundgesetz für dieses Staatsfragment muss gerade aus diesem seinem inneren Wesen heraus seine zeitliche Begrenzung in sich selber tragen. Die künftige Vollverfassung Deutschlands darf nicht durch Abänderung des Grundgesetzes dieses Staatsfragments entstehen müssen, sondern muss originär entstehen können. Aber das setzt voraus, dass das Grundgesetz eine Bestimmung enthält, wonach es automatisch außer Kraft tritt, wenn bestimmte Ereignisse eintreten sollen.
Wann soll es außer Kraft treten? Ich glaube, dass über diesen Tag kein Zweifel bestehen kann: An dem Tage, an dem ein von dem deutschen Volk in freier SelbstbesƟmmung beschlossene Verfassung in Kraft
tritt.
Zweitens: Für das Gebiet eines echten, vollen Staates ist charakteristisch, dass dieses Gebiet geschlossen ist. Dass also nichts hineinragen kann, über die Grenzen und nichts aus diesen Grenzen hinausragen kann, an hoheitlicher Möglichkeit. Beim Staatsfragment ist das anders und mag es anders
sein. Hier ist räumliches Offensein nicht durch sich selber ausgeschlossen. Und das wird sich in einem doppelten Sinn in unserer Arbeit niederschlagen können und, wie ich glaube, müssen.
Dieses Grundgesetz muss eine Bestimmung enthalten, aufgrund der jeder Teil deutschen Staatsgebietes, der die Aufnahme wünscht, auch aufgenommen werden muss. Wobei die Frage noch zu klären sein wird, wie dies geschehen soll und ob hier Bedingungen aufgestellt werden sollen. Ich glaube, und damit komm ich zum Zweiten, dass man die Aufnahme so wenig erschweren sollte als möglich.
Schließlich bleibt die Frage, ob nicht die Teile Deutschlands, die außerhalb des Anwendungsgebietes Grundgesetzes verbleiben müssen, nicht die Möglichkeit sollen erhalten können an den gesetzgebenden Organen, die das Grundgesetz schaffen wird, sich zu beteiligen. Wie, sollen sie es allgemein tun können, darüber wird hier noch zu sprechen sein. Aber eine Voraussetzung scheint mir vorliegen zu müssen. Es müssen in diesem Gebiet möglich sein, freie Wahlen und es muss dort die Möglichkeit bestehen, Vertreter hierher zu entsenden.
Das trifft heute zu auf Berlin. Und deswegen sollte das Grundgesetz die Bestimmung vorsehen, Vertreter Berlins in die gesetzgebenden Körperschaften zu berufen. Gewiss, ich weiß, man kann sagen,
das sei nicht logisch. Denn es sei nicht logisch, Vertreter von Gebieten an der Gesetzgebung zu beteiligen, von Gebieten, auf die die Gesetze keine Anwendung finden. Gewiss, das ist nicht sehr logisch. Aber es handelt sich hier nicht so sehr darum, Logik zu treiben, als politisch zu sein. Und ich
meine, dass man es auf wirksamere Weise nicht zum Ausdruck bringen könnte, dass nur äußere Gewalt verhindert, dass wir hier nicht alle Deutsche zusammenvereinigt sind.
Das Dritte, in dem das Fragmentarische zum Ausdruck kommen muss, ist die innere Begrenzung der Organe auf die durch den äußeren Zwang heute noch eingeschränkten Möglichkeiten. Und da stellt sich, um nur ein Beispiel zu nennen, das Problem der Frage des Auĩaus der Organe. Zum Beispiel, es
ist nur herausgegriffen, die Frage: Soll ein Staatsoberhaupt, ein Bundespräsident etwa vorgesehen werden? Braucht man ihn in einem Staatsfragment? Entspricht es der notwendigen Dignität einer
solchen Funktion?
Diese Funktion heute schon ins Leben zu rufen, ist es nicht besser, statt eines Präsidenten ein bescheideneres Organ mit den Aufgaben zu betrauen, die sonst vernünftigerweise ein Präsident zu erledigen hat? Soll das Amt nur ruhen? Alles das sind Fragen, die sich von diesen grundsätzlichen
Betrachtungen aus stellen müssen. Aber, wenn auch die Ordnung, die hier durch uns gestaltet wird, nur die Ordnung für ein Staatsfragment ist, so kann sie doch so ausgestaltet werden, und so sollte sie unserer Meinung nach so ausgestaltet werden, dass bei Ausweitung der heute gewährten
Freiheitssphäre die geschaffene Organisation fähig ist, sie voll auszufüllen. Und ich möchte darüber hinaus noch sagen, man sollte diese Organisation so stark und vollständig machen, dass sie fähig wird durch ihr Wirken, eine solche Ausweitung in Fluss zu bringen und durchzusetzen.
Es ergeben sich dann aus dem Wesen des Provisoriums eine Reihe weiterer Fragen, praktischer Fragen, zum Beispiel das Problem, ob in diesem Grundgesetz der Weimarer Verfassung Erwähnung getan werden muss oder nicht. Sicher, das ist meine persönliche Meinung, besteht sie als Ganzes nicht mehr. Die Desorganisation durch die Naziherrschaft und durch die Besetzung hat ihr zumindest auf weiten Strecken den Garaus gemacht.
Auf der anderen Seite ist durch die Rechtsprechung in Deutschland klar herausgestellt, dass sie zumindest und zum Teil noch weiter gilt. Zumindest also besteht auf diesem Gebiet eine Rechtsunsicherheit. Es ist eine Frage, ob man diese Rechtsunsicherheit nicht dadurch beseitigen soll, dass im Grundgesetz so oder so der Weimarer Verfassung Erwähnung getan wird, vielleicht in der Weise, dass man sagt, dass soweit Ihre Bestimmungen in Widerspruch zu diesem Grundgesetz stehen, sie ruht.
Weiter werden Bestimmungen in das Grundgesetz müssen, die die Frage der Weitergeltung von Gesetzen und Verordnungen betreffen, die vor dem Grundgesetz erlassen worden sind, sei es von den Ländern auf Sachgebieten, die künŌig nicht mehr den Ländern zustehen sollen, sei es von
Zonenorganen, sei es vom WirtschaŌsrat und schließlich werden wir noch Bestimmungen vorsehen müssen für die Überleitung der Kompetenzen auf etwa neu zu schaffende Organe.
Und nun, meine Damen und Herren, komme ich zu einem weiteren grundsätzlichen Kapitel. Wo liegen die Hoheitsbefugnisse aufgrund derer wir dieses Grundgesetz beraten und beschließen? Wer wird dabei durch uns tätig? Wird durch uns tätig das deutsche Volk, oder werden durch uns tätig die Länder, und zwar die Länder als in sich geschlossene Gebietskörperschaft?
Die Frage zu beantworten ist nicht müßig. Ich glaube, dass es entscheidend ist für dieses Werk, wie wir diese Frage beantworten. Deutschland ist, das glaube ich bewiesen zu haben, als staatliches Gebilde nicht untergegangen. Damit dass Deutschland weiter besteht, gibt es auch heute noch ein deutsches Staatsvolk. Es ist also auf dem Gebiet, das durch die drei Westzonen heute umschrieben wird, ein Gesamtakt dieses deutschen Staatsvolkes noch möglich. Und ein solcher Gesamtakt kann auch durch
Länderverfassungen nicht verboten werden.
Das deutsche Volk ist aber keine amorphe Masse, es ist in Ländern gegliedert. Und es ist in seiner bisherigen Geschichte noch immer in dieser Gliederung in Ländern politisch aufgetreten. Auch dann,
wenn es das deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Hessen und so weiter ist, das handelt, ist es das deutsche Gesamtvolk, das handelt.
Ich glaube, dass darum sicher ist, dass dieses Staatsfragment, dieses Grundgesetz, nicht aufgrund einer Vereinbarung der deutschen Länder zu entstehen braucht, dass nicht bei den Ländern die Quelle der
Hoheitsgewalt liegt, sondern beim deutschen Volk. Von dieser Auffassung scheinen auch die Besatzungsmächte auszugehen. Dokument eins und zwei sind hier ganz deutlich.
In Dokument zwei steht zum Beispiel, dass die deutschen Ministerpräsidenten Vorschläge machen sollen über die Änderung der Ländergrenzen, wohlgemerkt, alle Ministerpräsidenten für jeden beliebigen Teil des deutschen Staatsgebietes. Das ist nur möglich, wenn man davon ausgeht, dass die
Besatzungsmächte wollten, dass die Ministerpräsidenten hier treuhänderisch in Wahrung gesamtdeutscher Interessen handeln sollten. Denn wie käme sonst der Ministerpräsident von Würtemberg Baden dazu, zu erklären, er sei nicht damit einverstanden, dass zum Beispiel die Grenzen Schleswig-Holsteins so verlaufen, wie sie heute sind und nicht anders. Dazu ermächtigt ihn doch seine Landesverfassung nicht. Dazu ist er doch nur ermächtigt, wenn man davon ausgehen kann, dass noch eine Möglichkeit besteht, gesamtdeutsche Interessen unmittelbar zu repräsentieren.
Weiter, der parlamentarische Rat ist ein gesamtdeutsches Organ. Meine Damen und Herren, wir vertreten hier nicht bestimmte Länder, sondern wir vertreten hier die Gesamtheit des deutschen Volkes, soweit sie sich äußern kann. Und das deutsche Volk, Umstand, dass es in Ländern gegliedert ist,
kommt darin zum Ausdruck, dass erstens die Wahl der Abgeordneten für dieses Hohe Haus durch die Landtage erfolgte und weiter, dass der Beschluss, zu dem wir kommen werden, in den Ländern zu ratifizieren ist. Aber notabene, nur zu ratfizieren und nicht etwa als Gesetz zu beschließen.
Und schließlich, und das scheint mir jeden Zweifel auszuschließen, die Bestimmung, dass dieses Grundgesetz für das ganze Gebiet der elf Länder gelten wird, auch dann, wenn nur zwei Drittel der Länder zustimmen. Wie sollte es die Möglichkeit geben, dass zwei Drittel ein Drittel majorisieren, wenn man nicht von vornherein davon ausgeht, dass schon ein deutsches Staatsvolk besteht, dass schon eine deutsche Staatswirklichkeit besteht, die imstande ist, eine „Volonté Générale“ herzustellen, auch dort,
wo die „Volonté de tous“ anders aussehen könnte.
Das sind keine müßigen Theorien, sondern das ist eine Feststellung, die mir notwendig scheint. Denn wir müssen hier wissen, bei wem der Anspruch ruht, ob Deutschland unter Ländern ausgehandelt werden muss, oder ob das deutsche Volk sich selbst sein Haus zu bauen hat.
Nun eine weitere Frage. Soll das Gebilde, das wir hier organisieren, dessen Organisation wir hier zu schaffen haben, einen Namen bekommen oder nicht? Die Frage ist von höchster Bedeutung. Nominas und Omina, Namen bringen zum Ausdruck, was eigentlich entsteht oder entstehen soll. Nun ist Frage
die, ob sich ein Name überhaupt verträgt mit einem Provisorium, ob hier nicht eine bloße Bezeichnung statt eines Namens das Bessere wäre. Die Frage scheint mir von größter Schwierigkeit. Es wird hier eine politische Entscheidung in diesem Hohen Hause fallen müssen. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, von irgendwelcher systematschen Seite her den Beweis zu führen, dass dieses oder jenes von der Vernunft aus richtig oder falsch wäre. Man muss sich hier eben entscheiden. Aber, welcher Name auch immer gegeben werden mag und ob ein Name gegeben werden mag, in dem
Gebiet, für das das Grundgesetz gilt, wird nicht separate westdeutsche Gebietshoheit ausgeübt, sondern gesamtdeutsche Hoheitsgewalt in Westdeutschland. Das sollte bei der Bezeichnung der
Organe zum Ausdruck kommen. Denn was hier geschieht, ist zwar räumlich auf einen Teil Deutschlands beschränkt, aber, wir sollten das nie vergessen, es leitet sich ab aus dem Recht des gesamten deutschen Volkes.
Wir werden uns überlegen müssen, ob wir dieses Grundgesetz einleiten mit einer Präambel. Ich für meinen Teil halte das für notwendig, denn die Präambel charakterisiert das Wesen des Grundgesetzes.
Sie sagt aus, was sein soll. Und sie wird insbesondere aussagen müssen, was das Grundgesetz nicht sein soll. Die Präambel wird gewissermaßen die Tonart des Stückes angeben. Und sie wird darum alle konstitutiven Merkmale kennzeichnen und in sich enthalten müssen.
Weitere Frage: Soll hier dieses Staatsfragment Symbole erhalten, Farben und Flaggen, allgemeine Symbole, die dem ganzen Volk eigen sein sollen? Oder will man sich mit Zwecksymbolen begnügen, etwa für die Schifffahrt, für Auslandsvertretungen und so weiter? Oder will man in das Grundgesetz
überhaupt nicht schreiben, was die Symbole betreffen könnte? Will man sich hier auf ein künftiges Flaggengesetz verlassen? Oder wie soll man sich hier verhalten? Auch das wird eine politische Entscheidung werden, die wir zu treffen haben. Aber eines scheint mir sicher zu sein: Wenn sich dieses Hohe Haus für ein Symbol entscheiden sollte, dann kann es nur ein gemeindeutsches Symbol sein. Und ich glaube, dass hierfür nichts anderes in Betracht kommen kann als die schönen Farben der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung, die Farben Schwarz, Rot, Gold.
Meine Damen und Herren, es ist uns aufgegeben worden, ein Grundgesetz zu machen, das demokratisch ist und das ein Gebilde des föderalistischen Typs zu errichten hat. Was bedeutet das? Welche allgemeinen Inhalte muss danach das Grundgesetz haben, wenn diesen Auflagen Gerechtigkeit erwiesen werden soll? Was heißt denn eigentlich demokratisch, wenn man von
Verfassungen spricht? Gerade heute gefällt man sich darin, die Demokratie weiterzuentwickeln, wie man sagt. Progressistische Demokratien zu erfinden, locus sanon luzendo.
Mir persönlich liegt es mehr, wenn von Demokratie gesprochen wird, an die klassische Demokratie zu denken, für die die Völker Europas bisher gekämpft haben. Und wenn wir das so Erkämpfte betrachten, dann finden wir, dass einige Dinge erfüllt sein müssen, wenn von demokraƟscher Verfassung
gesprochen werden soll. Das Erste ist, dass das gemeine Wesen gestellt und gegründet sein muss auf die allgemeine Gleichheit und Freiheit der Bürger. Was in zwei Dingen zum Ausdruck kommt: Einmal im rechtsstaatlichen Postulat, dass jedes Gebot und jedes Verbot aufgrund eines Gesetzes nur erfolgen kann. Und dass dieses Gesetz für alle gleich sein muss. Und zweitens durch das volksstaatliche Postulat.
Das bedeutet, dass jeder Bürger in gleicher Weise an dem Zustandekommen der Gesetze teilhaben muss. Ob das in der Form der plebiszitären unmittelbaren Demokratie erfolgt, oder in der Form der
Repräsentativdemokratie, das wird im Allgemeinen eine Zweckmäßigkeitsfrage sein, bei der das quantitative Element den Ausschlag wird geben müssen. Das Entscheidende ist, dass jeder Hoheitsträger, mittelbar oder unmittelbar, auf einen Wahlakt muss zurückgeführt werden können. Der ernannte Beamte zum Beispiel auf die Unterschrift eines Ministers, der selber bestätigt und eingesetzt worden ist durch ein allgemein gewähltes Parlament.
Nun erhebt sich die Frage, soll diese Gleichheit und Freiheit völlig uneingeschränkt und absolut sein? Soll sie auch denen eingeräumt werden, deren Streben ausschließlich darauf ausgeht, nach der Ergreifung der Macht die Freiheit selber auszurotten? Also soll man sich künftig so verhalten, wie man sich zurzeit der Weimarer Republik zum Beispiel den Nationalsozialisten gegenüber verhalten hat?
Auch diese Frage wird in diesem Hohen Hause beraten und entschieden werden müssen. Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. Ja, ich möchte weitergehen. Ich möchte sagen,
Demokratie ist nur dort mehr als eine bloße Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut daran hat, an sie zu glauben als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges. Und wenn man diesen Mut hat, dann hat man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber, die die Demokratie missbrauchen,
um sie aufzuheben.
Das Zweite, das verwirklicht werden muss, wenn man von demokratischer Verfassung im klassischen Sinn des Wortes spricht, ist das Prinzip der Teilung der Gewalten. Sie wissen, dass die Verfassung von siebzehnhundertzweiundneunzig sogar den Satz enthielt, dass ein Staat, der nicht auf das Prinzip der Teilung der Gewalten aufgebaut sei, überhaupt keine Verfassung habe.
Was bedeutet dieses Prinzip? Es bedeutet, dass die drei StaatsfunkƟonen Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung in den Händen gleichgeordneter und in sich verschiedener Organe liegen müssen. Und zwar deswegen in den Händen verschiedener Organe liegen müssen, damit sie sich
gegenseitig kontrollieren und das Gleichgewicht halten können.
Diese Lehre hat ihren Ursprung in der Erfahrung, dass wo auch immer die gesamte Staatsgewalt sich in den Händen eines Organes nur vereinigt, dieses Organ die Macht missbrauchen wird. Nur dort, wo Verschiedene es sind, die die oberste Gewalt ausüben, besteht Sicherheit, dass die Macht nicht zum
Missbrauch ihrer selber wird. Freilich besteht auch die Möglichkeit, dass die einzelnen Gewalten die Macht, die in ihrer Unabhängigkeit liegt, missbrauchen. Sie wissen die harte Kritik, die man während der Zeit der
Weimarer Republik an der richterlichen Gewalt geübt hat und wie ich glaube, nicht immer mit Unrecht.
Vielleicht wird es mit zu unseren Aufgaben gehören müssen, dass diese Gewalt nicht missbraucht werden kann gegen die Demokratie.
Heute ist es wieder nötig, von diesen alten Dingen zu sprechen. Denn gerade diese Demokratie, die sich als besonders progressistisch bezeichnet, will die Teilung der Gewalten zu mindestens zum großen Teil ausleben. In dem Entwurf zu einer deutschen Verfassung, den der deutsche Volksrat ausgearbeitet hat, finden sich zum Beispiel eine Reihe von Bestimmungen, die nichts anderes bedeuten als den Ausdruck dafür, dass das Prinzip der Teilung der Gewalten in dieser Verfassung nicht mehr gelten soll. Dort ist letzten Endes die gesamte Gewalt im Parlament konzentriert.
Das Parlament soll, letzten Endes, nicht nur Gesetze erlassen können und die Regierung politisch kontrollieren können, sondern es soll letzten Endes auch über die Rechtmäßigkeit eines Geschehens entscheiden können. Wenn man das tut, dann hat man alle Voraussetzungen für die Installierung einer
Diktatur schon verwirklicht. Und darum sollte man in dem Grundgesetz, das wir zu beschließen haben, klar zum Ausdruck bringen, dass das Prinzip der Teilung der Gewalten realisiert werden muss.
Als drittes Erfordernis für das Bestehen einer demokraƟschen Verfassung gilt im Allgemeinen die Garantie der Grundrechte. In modernen Verfassungen finden wir überall Kataloge von Grundrechten, in denen das Recht der Personen, der Individuen, geschützt wird gegen die Ansprüche der Staatsräson.
Der Staat soll nicht alles tun können, was ihm gerade bequem ist, auch dann nicht, wenn er einen willfährigen Gesetzgeber findet, sondern es soll der Mensch Rechte haben, über die auch der Staat nicht voll verfügen können.
Das Grundgesetz, die Grundrechte, müssen das Grundgesetz regieren. Sie dürfen nicht nur ein Anhängsel des Grundgesetzes sein, wie der Grundrechtskatalog von Weimar ein Anhängsel der Verfassung gewesen ist. Und diese Grundrechte sollen nicht bloße Deklamationen, Deklarationen oder
Direktiven sein, nicht nur Anforderungen an die Länderverfassungen, nicht nur eine Garantie dern Ländergrundrechte, sondern unmittelbar geltendes Bundesrecht, aufgrund dessen jeder einzelne Deutsche, jeder einzelne Bewohner unseres Landes, soll vor den Gerichten Klage erheben können. Nur wird die Frage sein, wie weit man den Umfang dieses Grundrechtskataloges ziehen will. Sollen lediglich die sogenannten echten Grundrechte aufgenommen werden, also die Rechte der Individualperson? Oder auch die Rechtsbestimmungen über die sogenannten Lebensordnungen, die so zahlreich in unseren Länderverfassungen verstreut sind, Wirtschaft, Kultur, Familie und so weiter.
Vielleicht wird es sich bei einem Provisorium empfehlen, keine endgültige Gestaltung der Lebensordnung zu versuchen. Sich stattdessen zu begnügen, einen recht klaren und wirksamen Katalog von Individualgrundrechten aufzustellen, so wie in den klassischen „Bills of rights“ der
angelsächsischen Länder. Aber, auf der anderen Seite, sollte dieses Grundgesetz die Länder nicht daran hindern, von ihren weitergehenden Grundrechten und Ordnungsbestimmungen Gebrauch zu machen.
Die Frage wird auch sein, ob diese Grundrechte betrachtet werden, als Rechte, die der Staat verlieren hat, oder als vorstaatliche Rechte, als Rechte, die der Staat schon antrifft, wenn er entsteht und die er lediglich zu gewährleisten und zu beachten hat. Auch das ist nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern von eminent praktischer Bedeutung. Insbesondere für die Entscheidung der Frage, ob diese Grundrechte auch sollen auf Schranken stoßen können.
Sollen sie schlechthin absolut und unberührbar sein? Ich glaube, dass man bei den Grundrechten eine immanente Schranke wird anerkennen müssen. Es soll jener sich nicht auf die Grundrechte berufen dürfen, der von ihnen nur Gebrauch machen will zum Kampf gegen die demokratische und freiheitliche
Grundordnung. Wir wollen nicht mehr, dass man sich auf das Grundrecht der Pressefreiheit beruft, nur zu dem einen Zweck, eine Republik zu beseitigen, um an Ihre Stelle eine Diktatur zu setzen, die keine Pressefreiheit mehr kennen wird.
Wir wollen auch nicht haben, dass man diese Grundrechte mit einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt versiegt, wie das etwa in der Verfassung, in den Verfassungsrichtlinien des Volksrates und in einigen Verfassungen der Länder der Ostzone der Fall ist. Wenn ich jedes Grundrecht durch Gesetz
einschränken kann, dann ist es völlig sinnlos, es durch die Verfassung zu garantieren. Dann ist es eine bloße Deklamation und keine effektive Wirklichkeit. Der allgemeine Gesetzesvorbehalt entwertet das
Grundrecht, reduziert es auf null. Man wird aber bei einigen Grundrechten ohne einen beschränkten Gesetzesvorbehalt nicht auskommen können.
Ich erinnere nur an alles, was sich aus der Tatsache der Wohnungsbewirtschaftung zum Beispiel ergibt,
der Einquartierung und anderes mehr. Aber, man sollte von diesen beschränkten Vorbehalten nur einen äußerst sparsamen Gebrauch machen. Und keinesfalls soll die Möglichkeit des Gesetzgebers so weit
gehen, dass er das Grundrecht in seiner Substanz kränken kann.
Und nun, Entscheidende, soll der Staat den Grundrechten gegenüber vom Staatsnotstandsrecht Gebrauch machen können? So, dass er, wenn er mit den ordentlichen Mitteln nicht fertig werden kann, die Grundrechte aufhebt, um Ruhe und Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen? Man wird sich
diese Frage sehr genau überlegen müssen. Man wird sich fragen müssen, ob die Tatsache der Grundrechte, die Unberührbarkeit der Grundrechte in sich selber, nicht ein so hohes Gut ist, dass der Staat auch in Zeiten des Notstands soll vor ihnen zurücktreten müssen.
Vielleicht kann eine Untersuchung der Tatbestände zeigen, dass bei Notständen, wie sie bei uns denkbar sind, der Staat im Allgemeinen mit den allgemeinen polizeilichen Mitteln wird fertig werden
können. Vielleicht aber wird man auch zur Erkenntnis kommen, dass diese Mittel nicht genügen könnten und dass dann vor dem Notstand des Staates das Individuum zurückstehen muss. Sollte man zu dieser Überzeugung kommen, dann wird man aber darauf bedacht sein müssen, dass auch im Fall
des Notstands nur bestimmte Grundrechte sollen suspendiert werden dürfen, und auch dann nur für Zeit und nur unter der Kontrolle demokratischer Institutionen.
Meine Damen und Herren, jede Verfassungswirklichkeit hängt letzten Endes von dem Wahlrecht ab, das in einem bestimmten Bereich gilt. Ich glaube, dass man sich auch in diesem Hause wird mit dieser Frage beschäftigen müssen. Sei es nur, um sich darüber schlüssig zu werden, ob Bestimmungen über
die Modalitäten eines Wahlgesetzes in dieses Grundgesetz aufgenommen werden sollen oder nicht. Notabene: Bis heute scheint mir noch keine Klarheit darüber zu bestehen, wer das Wahlgesetz erlassen soll zur Wahl der ersten parlamentarischen Vertretung des deutschen Volkes. Ob das von den
Militärbefehlshabern erlassen werden soll, oder von den Ministerpräsidenten? Bisher scheint mir nur das eine festzustehen, dass es nicht der Parlamentarische Rat sein soll, der dieses Wahlgesetz erlässt.
Die Frage ist aber, ob nicht durch uns in das Grundgesetz allgemeine Bestimmungen für ein solches Wahlgesetz aufgenommen werden sollten? Ich für meinen Teil würde darin einen Nachteil sehen. Man soll Wahlgesetze nicht allzu sehr unter Verfassungsschutz stellen. Man sollte Wahlgesetze beweglich
lassen, damit sich hier bestimmte Erfahrungen auswirken können und damit sich auch etwas wie ein Stilwandel im politischen Leben auswirken kann.
Aber, ich glaube, dass etwas anderes in den Kreis unserer Erwägungen miteinbezogen werden sollte.
Nämlich das Phänomen der politischen Parteien. Ich habe es immer seltsam gefunden, dass auch die modernsten Verfassungen bis auf wenige unter ihnen von der Existenz politischer Parteien keine Notiz nehmen. Freilich ist es sicher: Die politischen Parteien sind keine Staatsorgane, sie sind aber
entscheidende Faktoren unseres staatlichen Lebens. Und je nachdem, ob sie so oder anders organisiert sind, haben unsere Staatsorgane diesen oder einen anderen Sinn.
Nun scheint es mir richtig zu sein, dass man sehr bald ein Parteiengesetz erlässt. Und mir scheint weiter richtig zu sein, dass man in dieses Grundgesetz Mindestbestimmungen für ein solches Parteiengesetz
aufnimmt. Bestimmungen, die einen gewissen demokratischen Mindeststandard für das organisatorische Leben der politischen Parteien vorsehen. Ich denke dabei nicht an Lizenzzwang. Ich
halte es für eine schlechte Sache, politische Parteien unter Lizenzzwang zu stellen. Aber ich denke daran, dass man vielleicht vorsehen könnte, dass die politischen Parteien periodisch Rechnung legen
müssen über die Mittel, die ihnen zufließen. Oder dass sie ihre Kandidaten in Urwahlen aufstellen müssen. Oder dass sie einmal im Jahr in Mitgliederversammlungen Rechnung legen müssen über ihr
Tun und Ähnliches. Könnte mir vorstellen, dass auf diese Weise sich einiges bei uns zum Nutzen einer echten Demokratie ändern könnte.Vielleicht könnte man sogar daran denken, ob nicht in diesem Grundgesetz eine Bestimmung vorgesehen werden soll, die die – wie ich glaube voreilig in die Länderverfassungen aufgenommenen– Bestimmungen über das Wahlsystem gegenstandslos macht. Aber das ist nur ein Gedanke, den ich
hier zu Erwägung geben möchte.
Meine Damen und Herren, zur Demokratie gehört weiter die Anerkennung des Satzes, dass Recht vor Macht geht. Und ich glaube und ich möchte behaupten, dass heute ein Staat sich nur dann als auch in
sich selber demokratisch bezeichnen kann, wo er diesem Prinzip im Verhältnis zu den anderen Staaten Ausdruck gibt.
Ich brauche hier nicht an die großartigen Gedanken Immanuel Kants zu erinnern. Dort, in seiner Schrift vom ewigen Frieden, wo er sagt, dass der Staat selber den Menschen, den Bürger nur dann ins Recht
einbetten könne, wenn die Staaten im Verhältnis zueinander in das Recht eingebettet seien. Ich glaube, dass das Grundgesetz eine Bestimmung enthalten sollte, die besagt, dass die allgemeinen Regeln des
Völkerrechtes unmittelbar geltendes Recht in diesem Lande sind. Dass also das Völkerrecht von uns nicht betrachtet wird ausschließlich als eine Rechtsordnung, die sich an die Staaten wendet, sondern
auch als eine Rechtsordnung, die unmittelbar für das Individuum Rechte und Pflichten begründet.
Weiter sollte man eine Bestimmung vorsehen, die es erlaubt, im Wege der Gesetzgebung Hoheitsbefugnisse zu übertragen auf internationale Organisationen. Ich glaube, dass dieses
Grundgesetz durch eine solche Bestimmung lebendig zum Ausdruck bringen würde, dass das deutsche Volk zumindest entschlossen ist, aus der nationalstaatlichen Phase der Existenz in die übernationalstaatliche Phase einzutreten. Wenn wir eine solche Bestimmung nicht aufnehmen, dann
wird in jedem einzelnen Falle ein verfassungsänderndes Gesetz erforderlich sein. Und was das bedeutet, brauche ich hier wohl nicht zu sagen. Wir sollten stattdessen uns selber die Tore in eine neugegliederte überstaatliche politsche Welt weit öffnen.
Denn, wir wollen uns doch nichts vormachen. In dieser Zeit gibt es kein Problem mehr, das ausschließlich mit nationalen Mitteln gelöst werden könnte. So wie die Ursache aller unserer Nöte eine
übernationale Grundlage hat, so können wir auch die Mittel dieser Nöte Herr zu werden, nur auf übernatonaler Grundlage finden. Freilich sollen die Internationalisierungen, die Platz greifen, echte Internationalisierungen werden und nicht Hypotheken einseitig zulasten des deutschen Volkes.
Und da stellt sich ein weiteres Problem: Das Problem der Sicherheit dieses Gebietes. Wir werden keine
Wehrmacht mehr haben. Ich für meinen Teil begrüße es, dass das Zeitalter der nationalen Wehrmachten zu Ende zu gehen scheint. Und dass die Ausübung der Wehrhoheit, wenn man so sagen will, auf einer übernationalen Sphäre geschehen wird.
Das setzt voraus, dass sich die Länder, die Staaten in einem System kollektiver Sicherheit zusammenschließen, wo die Sicherheit nicht mehr ausschließlich garantiert wird durch das nationale militärische und industrielle Machtpotenzial, sondern wo die Sicherheit des Einzelnen garantiert wird
durch alle anderen. Ich glaube, dass das Grundgesetz eine Bestimmung enthalten sollte, die es möglich macht, einem solchen System kollektiver Sicherheit auf der Grundlage der Gegenseitigkeit beizutreten.
Manche meinen, es genüge, dass sich ein Staat durch seine Verfassung neutralisiert. Dieser Wunsch ist verständlich, jeder blickt gerne hinüber nach der Schweiz. Aber, so geht es nicht. Es gibt kein Institut der Neutralisierung, die man einseitig erklärt. Es gibt nur Gebiete, die durch eine Reihe internationaler Verträge neutralisiert sind. Und wenn ich einer Reihe von Nachbarstaaten die Pflicht auferlege, die Neutralität dieses Gebietes zu garantieren, dann muss sich Ihnen auch das Recht geben, sich um die
Politik dieses Gebietes zu kümmern. Denn wenn hier eine falsche Politik gemacht wird, engagiert das ja ihre Verpflichtung. Und man kann niemand zumuten, Verpflichtungen zu übernehmen, ohne korrespondierende Rechte zu verlangen. Aus diesem Grunde sollte man nicht so leichtfertig mit dem
Begriff der Neutralisierung umgehen.
Ich glaube, dass das Grundgesetz weiter eine Bestimmung enthalten sollte, die jeden unter Strafe stellt, der das friedliche Zusammenleben der Völker stört und Handlungen vornimmt, in der Absicht, die Führung eines Krieges vorzubereiten. Ich denke dabei nicht nur an die FabrikaƟon und den Handel von Waffen, sondern ich denke dabei auch an den Turnverein, in dem in Wirklichkeit Wehrsport getrieben wird, also vormilitärische Ausbildung getrieben wird. Wohin diese Dinge uns geführt haben, das wissen
wir. Und wir bezahlen heute die Rechnung für den Unfug, den wir einmal duldeten.
Ich glaube, dass das Grundgesetz weiter eine Bestimmung enthalten sollte, dass wir Abtretung deutschen Gebietes ohne die Zustimmung der auf diesem Gebiet wohnenden Bevölkerung nicht anerkennen. Vielleicht können wir gezwungen werden, zu erleiden und zu ertragen, was uns bisher
hier angetan worden ist. Aber man wird uns niemals zwingen können, das als Recht anzuerkennen. Weder im Westen noch im Osten. Das gehört zur Ehre eines Volkes und damit auch zur Demokratie.
Eine Tyrannis kann es sich leisten, Menschen zu verkaufen, die Demokratie aber nicht.
Wir lesen gegenwärtig wieder in den Zeitungen etwas von Gebietsforderungen, die man auch hier im Westen an uns stellt. Wir müssen anerkennen, dass es an den Grenzen bestimmte Probleme gibt, die
gelöst werden müssen. Wir glauben aber nicht, dass man heute in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts solche Probleme unbedingt mit Methoden lösen muss, die achtzehnhundertvierzehn vielleicht modern gewesen wären.
Diese Probleme können gelöst werden auf internationaler Grundlage. Man kann sich hier von Staat zu Staat einigen über die Lösung der Schwierigkeiten, die da und dort an den Grenzen sein mögen und
braucht da nicht gleich zu Gebietsabtretungen zu schreiten. Wenn man entschlossen ist, in seinem
eigenen Lande sich nationalistischen Regungen entgegenzustellen, dann ist man auch verpflichtet, etwas Nationalismus zu heißen, was anderswo geschieht.
Wir sollen dieses Grundgesetz so machen, dass das Gebilde, das daraus entsteht, ein Gebilde föderalistischen Typs ist. Man hat uns das auferlegt, offensichtlich, als etwas, das im Rahmen der
Sicherheitspolitik liegen soll, die man uns gegenüber betreiben will. Denn während überall sonst in der Welt Föderalismus bedeutet „Vereinigung von Getrenntem“, will man ihn bei uns offenbar einführen, um schon Geeintes wieder zu dissoziieren. Also genau den umgekehrten Prozess, den man im eigenen Lande gewählt hat.
Nun, ich glaube, es lohnt sich darüber, einige Worte zu verlieren. Glaubt man denn wirklich im Ernst, dass die Sicherheit unserer Nachbarn garantiert werden kann durch verfassungstechnische Mätzchen?
Ich glaube nicht, dass Föderalisierung als solche eine Sicherheitsgarantie für unsere Nachbarn ist. Ich glaube aber, dass Demokratisierung Deutschlands eine Sicherheit für unsere Nachbarn abgeben könnte. Hätten wir neunzehnhundertvierzehn eine unter parlamentarischer Kontrolle stehende
Regierung gehabt, dann wäre der Frieden gesicherter gewesen, als er es in dem damaligen sehr
föderalistisch aufgebauten Deutschland gewesen ist. Der Bundesrat hat den Krieg nicht verhindert. Ein Parlament aber hätte ihn wahrscheinlich verhindert.
Nun, was hierzu zu sagen ist, zur Frage Föderalismus, dafür nur einige Worte: Was heißt föderalistische Ordnung? Ich glaube, dafür lassen sich so viele Antworten geben wie auf die Frage, was heißt Demokratie? Es gibt eine Reihe von historischen Verfassungsmodellen, die man übereingekommen ist,
föderalistisch zu nennen. Sie differieren außerordentlich untereinander. Ich glaube aber doch, dass einige Charakteristika festzustellen sind, die realisiert sein müssen, wenn irgendwo einer Verfassung das Prädikat föderalistisch gegeben werden soll.
Das Erste scheint mir zu sein, dass das Gebiet gegliedert sein muss in eine Reihe differenzierter Gebietskörperschaften eigener Ordnung. Das Zweite, dass eine Bundesgewalt bestehen muss, die innerhalb ihrer Zuständigkeit der Gewalt der Glieder vorgeht. Drittens, dass auf bestimmten
Sachgebieten eine eigenständige, ausschließliche oder konkurrierende Zuständigkeit der Glieder bestehen muss. Viertens, dass die Glieder zu beteiligen sind an den Organen, die den Willen des Bundes, den gesetzgeberischen oder exekutiven Willen des Bundes bilden. Und schließlich fünftens, dass ein qualifizierter Schutz vorhanden ist gegen Änderungen der föderalistischen Struktur der Verfassung.
Es ist für uns kein Zweifel, dass die deutschen Länder die Grundlage des Gebietes sein müssen, das wir jetzt organisieren. Dass Sie eine eigene Verfassungshoheit, Organisationshoheit haben müssen, eine
eigene Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung und eine vom Bunde getrennte Finanzwirtschaft im Rahmen der Bestimmungen des Grundgesetzes.
Weiter ist es für uns kein Zweifel, dass eine Bundesgewalt geschaffen werden muss, die nicht die Summe der Ländergewalten ist, sondern eine eigenständige Gewalt, die im Rahmen der Bestimmungen
des Grundgesetzes den Vorrang vor den Ländergewalten hat. Bundesrecht soll Landesrecht brechen.
Schwierig wird sein, das Verhältnis, in dem die ausführenden Gewalten auf beiden Stufen zueinanderstehen sollen… ich will hier aber nicht vorwegnehmen, was morgen aus berufenerem
Munde dazu ausgeführt werden soll. Lassen Sie mich nur noch einiges Grundsätzliche hier andeuten.
Es wird nötig sein, dass wir hier die Gesetzgebungskompetenz nach Sachgebieten abgrenzen. Die Frage wird sein, wie wir dabei verfahren sollen.
Ich würde es bedauern, wenn man dabei verfahren würde, aufgrund irgendwelcher formalistischen Standpunkte. Aufgrund eines formalistischen Föderalismus oder eines formalistischen Unitarismus.
Wir sollten überhaupt nicht deduktiv verfahren bei diesen Dingen, sondern induktiv. Das heißt, nach dem Prinzip der fachlichen Zweckmäßigkeit. Ich glaube, dass es dafür zwei Grundsätze gibt, über die wir uns werden einigen können. Der Erste ist: Die Lebensinteressen des Ganzen dürfen nicht durch
partikulare Egoismen gefährdet werden. Der zweite Satz: Was das Land ohne Schädigung des Ganzen tun kann, das soll es auch allein tun. Denn es hat den Vorteil der Sachnähe. Aufbau von unten, aber Planung von oben. Nur wenn dieser Satz auch mit ausgesprochen wird, ist der Erste richtig.
Der Frage, wie die Länder an der Bildung des Bundeswillens zu beteiligen sind, wird wohl morgen referiert werden, wenn über den Aufbau der Organe gesprochen wird. Ich will hier nur über einen Sonderfall noch sprechen. Die Frage der territorialen Gliederung des Bundesgebiets. Soll die
Gliederung des Bundesgebiets unverrückbar so bleiben, wie sie heute ist? Soll hierfür das geschichtlich Gewordene als letztes Kriterium gelten, oder sollen rationelle Gesichtspunkte bei der Entscheidung dieser Frage walten? Ich bin der Meinung, und mit mir meine Freunde, dass ein gesunder Föderalismus
nur möglich ist, wenn gegeneinander vernünftig ausgewogene Länder vorhanden sind und nicht pure Zufallsgebilde, die großenteils nicht älter sind als drei Jahre und ihre Entstehung dem Zufall der Demarkationslinie zwischen zwei Infanteriedivisionen verdanken.
Jetzt sollen die Herren Ministerpräsidenten dieses Problem regeln. Sie sollen, noch bevor unsere Arbeiten abgeschlossen sind, die Neugliederung Deutschlands auf dem Wege einer Änderung der Ländergrenzen vorgenommen haben. Werden Sie Erfolg haben oder nicht? Wir können es nur ahnen, aber nicht wissen. Nehmen wir an, es würde Ihnen nicht gelingen. Sollen wir uns dann endgültig mit dem Zustand begnügen, mit dem die Ministerpräsidenten nicht fertig werden konnten?
Wir werden uns darüber schlüssig werden müssen. Soll das Grundgesetz die Möglichkeit vorsehen, eine Neugliederung des Bundesgebietes vom Bunde her zu schaffen? Soll diese Neugliederung durch die Länder selbst vorgenommen werden, etwa im Wege gegenseitiger Verträge und Vereinbarungen, die bisher damit gemachten Erfahrungen können, glaube ich, alle am bisherigen Zustand Interessierten ruhig weiter ihren Schlaf genießen lassen. Soll, wenn eine solche Änderung durch Bundesgesetz vorgenommen werden kann, der Wille der beteiligten, Bevölkerungen mit in Betracht gezogen werden? So oder anders? Alles das werden Fragen sein, um die man sich hier wird bemühen müssen. Ich glaube nicht, dass wir die Frage herumkommen werden. Aber eines möchte ich sagen: Sollte es je einmal gelingen, die Gliederung Deutschlands nach
vernünftigen Gesichtspunkten durchzuführen, dann sollte man es bei dem geschaffenen Zustand sein Bewenden haben lassen. Dann sollte man ruhig konservativ verfahren.
Meine Damen und Herren, damit bin ich am Ende meiner Ausführungen angelangt. Sie sind Ihnen vielleicht gelegentlich ein wenig theoretisch vorgekommen. Aber glauben Sie mir, es ist dann nicht um
der Spekulation Willen geschehen. Ich habe versucht, von der Wirklichkeit eine klare Definition zu geben. Denn nur auf einer klar definierten Wirklichkeit kann man eine Politik auĩauen, die den Namen verdient. Mit Illusionen und mit Fiktionen kann man sich etwas vormachen. Eine Zeitlang vielleicht auch
anderen. Man kann sich ihrer vielleicht eine Zeitlang sogar als Instrumente einer Politik bedienen. Aber man kann Fiktionen nicht zu Fundamenten und einer Politik machen, nicht einmal zu Ansatzpunkten
für den Hebel einzelner politischer Aktionen.
Mein Anliegen ist gewesen, klare Einsicht zu vermitteln und dabei selber nüchtern zu bleiben. Klare Einsicht und Nüchternheit und leidenschaftliche Liebe zum deutschen Volk und brennende Sorge um den Frieden werden die sozialdemokratische Partei bei ihrer Arbeit im parlamentarischen Rate leiten.
Einsicht und Nüchternheit gebieten die Begrenzung zu erkennen, der unsere Möglichkeiten unterworfen sind. Je mehr wir bei voller Ausschöpfung dieser Möglichkeit dieser Realität Rechnung tragen, desto wirksamer wird das Instrument sein, das wir zu schmieden haben.
Wofür schmieden wir dieses Instrument? Schmieden wir es, um Deutschland zu spalten? Wir schmieden es, weil wir es brauchen, um die erste Etappe auf dem Wege zur staatlichen Einigung aller Deutschen zurückzulegen. Noch liegen die weiteren Etappen außerhalb unseres Vermögens. Möchten
die Besatzungsmächte sich der Verantwortung bewusst sein, die sie übernommen haben als sie sich zu Herren unseres Schicksals aufwarfen.
Diese Verantwortung schließt die Pflicht ein, um des Friedens Europas willen, Deutschland den Frieden zurückzugeben und damit dem deutschen Volk die Möglichkeit, von seinem unvernichtbaren Recht auf eigene Gestaltung der Formen und Inhalte seiner politischen Existenz Gebrauch zu machen. Ein
geeintes, demokratisches Deutschland, das seinen Sitz im Rate der Völker hat, wird ein besserer Garant des Friedens und der Wohlfahrt Europas sein als ein Deutschland, das man angeschmiedet hält wie einen bissigen Kettenhund.
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